Mittwoch, 17. Oktober 2012

Vorspiel 1

Als mein Vater sterben musste, war er drei Jahre jünger als ich jetzt bin.

Meine Mutter hat ihren Mann um 31 Jahre überlebt. Sie wusste nicht mehr wo sie war. Es blieb ihr jedoch ein inneres Gerüst, beleuchtet durch sanfte Berührungen und bewusste Blickkontakte. Zu mir, zu meiner Frau und zu meinen Geschwistern, zu den Enkeln und Urenkeln. Die Heimleiterin Susanne war ihr seit einem Jahr bekannt, Gesicht zu Namen, Name zu Gesicht. Dazu hatte sie fast vier Jahre gebraucht.

   Mutter, wer isch denn dui Frau do?
   Weiß I net.
   Die kennsch du doch.
   Noe. Aber I glaub, I han se scho mal gsea.
   Woesch, die macht dir emmer dei Gsälzbrot.
   I ess koe Gsälzbrot.
   Ha doch, du willsch doch gar koe Wurscht meh, du willsch doch emmer bloß a Gsälzbrot.
   Wenn de moensch.
   Ond dui Frau do? Woesch no, wie mr zu der sagt?
Ond plötzlich strahlt die alte, zusammen gesunkene Frau, greift nach ihrer Kaffeetasse und sagt:
   Des isch d´Susanne!

Als der Hausarzt viele Jahre zuvor zu mir gesagt hatte, Ihre Frau Mutter hat einen Alzheimer, da nahm ich das als gegeben und normal hin. Alterserscheinung. Sie lässt halt nach, dachte ich, und hab ihr Gingko-Kapseln gekauft. Die hat sie abgetan: So an Scheiß brauch I net, aber wenn de moensch, no schluck es halt.
Der Alzheimer hätte sie nach Jahren bis in die seelische und körperliche Verwahrlosung geführt, wenn man ihr nicht Hilfe geboten, geradezu aufgezwungen hätte.

Dann habe ich die Merkmale studiert und selber einen Alzheimer-Test gemacht, beim Neurologen. Mein Körper gleicht dem meiner Mutter in vielen Dingen: Verdauung, Kreislauf, Haut, gesunde Organe. Und Denkweise, Fantasien, Neugier, Sprachgefühl, Einstellung zur allernächsten Umgebung, Schlamperei, ausgeprägte Feinmotorik. Also Hirn.

Den Test habe ich summa cum laude bestanden, weil die Hälfte aller Aufgaben aus dem Mathe-Lehrplan meiner Mädels in der Schule stammten, die ich Jahr für Jahr auf die Mittlere Reife vorbereitet habe. Und ein Viertel waren typische Knobelfragen, die ich immer löse, wenn der Geist mir zufliegt. Aber manche Merkmale, die nur ich kenne, beobachtet bei meiner Mutter, und nun bei mir durchschimmernd, waren und sind signifikant.

Angst habe ich nicht. Denn das Hindämmern ist ein gutes Sterbekissen. Ich bin aber besorgt. Denn das alles müssen meine Kinder aushalten, wenn es so weit kommen würde, meine Frau, meine Enkel. Und dagegen sträube ich mich. Noch.